von Vera F. Birkenbihl
Rezitations-Spiel (= Vorlese-Training)*
Das folgende Rezitations-Training entwickelte ich ursprünglich als Rhetorik-Übung; inzwischen wird es auch mit Kindern an Schulen innovativer Lehrer bzw. von Eltern eingesetzt, die Schülerinnen helfen wollen, sich „am eigenen Schöpf aus der (anfänglichen) Unfähigkeit „herauszuziehen“ (was mit Jammern nie, mit Übung aber immer gut möglich ist). Man muß nämlich begreifen: So wie man das Gedächtnis nicht im Vakuum sondern immer nur an konkreten Aufgaben trainieren kann, so kann man freies Sprechen, Vorlesen etc. nicht „allgemein“ üben. Wer aber genügend Einzelbeispiele trainiert hat, wird bald tatsächlich auch allgemein besser. Spiele wie das folgende können das sehr gut zeigen. Wer mindestens 15 – 20 Mal den ganzen Ablauf mit jeweils einem (anderen) konkreten Text durchlaufen hat, wird auch neue Texte besser (vor-)lesen können, trotzdem gilt: Kein spezifischer Text kann ohne Training optimal gelesen werden, das kann nicht einmal der Autor eines Textes selbst! Wer sich davon überzeugen will, schneide öfter mal bei PHOENIX mit, wenn am Vormittag Politiker, Beamte und andere Zeitzeugen Reden „halten“, die viele nicht einmal anständig ABLESEN können, wiewohl sie diese Texte angeblich selbst geschrieben haben…
Das Rezitations-Spiel (bzw. Rezitations-Training) verläuft in mehreren Schritten. Bei Gruppen, die sehr nahe beieinander wohnen (bzw. Schülerinnen, die sich täglich sehen), spielt man jeden Tag einen Abschnitt. Andernfalls beginnen Sie mit KURZEN Texten (von jeweils nur einem Absatz), damit Sie alle Trainings-Schritte an einen Nachmittag oder Abend durchlaufen können.
Es gibt verschiedene Variationen, z.B. daß man die Mitspielerinnen in Paaren zusammenschließt, von denen jeweils einer als COACH fungiert (er darf den Text vorab sehen) aber ich beschreibe Ihnen jetzt die BAS IS-Version, in der man in kleinen Gruppen ä drei oder vier Spielerinnen übt (wie es auch in Seminaren oder Klassenzimmern möglich ist).
Material:
- Eine Auf Zeichnungsmöglichkeit (das kann ein altes Kassettengerät sein, oder pro Gruppe ein digitales Gerät, dessen Ergebnis man später jedem Spieler per e-mail zuschicken kann)
- Einen Timer pro Kleingruppe.
Vorbereitung: kalte AUFZEICHNUNG
SpielleiterIn überreicht allen ein verschlossenes Couvert mit dem Text (z.B. eine Fotokopie aus einem Buch oder den Ausdruck eines Textes aus dem Internet). Jeder entnimmt den noch unbekannten Text; er wird „kalt, d.h. ohne vorheriges (leises) Lesen und ohne Übung aufgezeichnet.
Schritt l: slow
gaaaaaaaaaaaanz laaaaaaangsam
- aNun lesen die Teilnehmerinnen sich den Text gegenseitig vor, aber die Spielregel lautet So laaaaaaaaaaagsam wie möglich, d.h., jede einzelne Silbe kann „unendlich“ in die Länge gezogen werden, aber zwischen den Silben dürfen keine Pausen entstehen. Sinn und Zweck leitet sich von der Arbeitsweise des Gehirns her Wenn wir einen Text extrem langsam lesen, haben alle (auch die Ungeübtesten) genügend Zeit, die folgenden ein bis zwei Silben in Ruhe zu betrachten, ehe sie diese ebenfalls langsam vorlesen sollen. Interessanterweise fällt diese Übung den Schnelllesern bes. schwer!
- bWenn alle mindestens einmal dran waren, können Gruppen, die bes. intensiv üben wollen, sich trennen, jeder sucht sich eine Ecke (oder läuft irgendwo auf und ab, je nachdem, ob man lieber sitzt oder sich lieber bewegt) und übt solange, bis man den Text flüssig vorlesen kann.
Achtung: In Schritt eins geht es nur ums „nackte (mechanische) Vorlesen“ der einzelnen SILBEN, noch nicht um einen guten „Vortrag“ des Textes! (Für die Fachleute unter Ihnen: es handelt sich um eine sog. oberflächliche Kodierung; wie PRIMEn für später).
Schritt 2: Analyse „s“ (plus Regie-Anweisung)
Jetzt werden alle „s“ im Text analysiert und in zwei verschiedenen Farben markiert. Manche „s“ sprechen wir weich (wie in Rose), manche hart (wie in „ist“), ohne daß dies immer an der Schreibweise zu erkennen wäre (vgl. „er ißt eine Banane“ und „er ist ein Berliner.“ In beiden Fällen sprechen wir das „s“ scharf (also wie „ß“). So müßten wir z.B. den Begriff „Diskussion“ dreimal hart sprechen [diß-kuß-ßion], wiewohl wir es dreimal so schreiben, wie das „s“ in Rose [rose]. Trotzdem sind mehr „s“ weich (so, singen, sein, sind, seid, seit, sitzen etc.)
Am Ende von Schritt 2 stehen klare REGIEANWEISUNGEN für die Aussprache aller „s“ im Text. Falls Sie allein« trainieren, versuchen Sie diesen Teil mit mindestens einer Person (vielleicht am Telefon) zu besprechen, da es vielen Leuten oft nicht klar ist, wie falsch sie Wörter normalerweise aussprechen [dis-kus-ionj. Wer öfter Menschen zuhört, die vom Blatt (oder frei) vortragen wird feststellen, daß Sprechfehler dieser Art einen Text geradezu unver-ständlich machen können…
Schritt 3: TRAINING Lesen nach Anweisung
Nun wird gemäß dieser Regieanweisung geübt, wieder zuerst gemeinsam aber, für intensives üben ist zu Empfehlen, daß man sich dann eine Weile trennt, damit jede/r maximale Übungszeit erhält. Bei jedem aktiven Lese-Schritt beginnen wir jedesmal wieder extrem laaaaaaaaangsam und werden erst mit Übung schneller..
Schritt 4: Analyse Inhalt Unterpunkte: Fragen? Pausen? Betonungen?
Wieder analysiert man in der Gruppe, diesmal jedoch geht es um den Inhalt. Inzwischen ist der Text gut vertraut, so daß es leicht fällt, vom SINN, der BEDEUTUNG auszugehen. Wo sollte man etwas hervorheben (betonen), um es zu „unterstreichen“? W o kleine Pausen machen, sei dies eine Spannungspause (die das nachfolgende hervorhebt), sei dies eine kleine Pause, damit Zuhörer mehr Zeit zum Mitdenken erhalten. Auch dieser Schritt endet mit klaren REGIE-ANWEISUNGEN
Schritt 5: TESTEN (lesen gemäß Anweisungen)
Wie Schritt 3.
Schritt 6: TRAINING
Dies ist das eigentliche Training. Nun, nachdem wir diverse Aspekte zusammengebracht haben, können wir die Lesung (die Rezitation) üben. Wir üben solange, bis wir das Gefühl haben, echten Fortschritt gemacht zu haben. Dann treffen wir in der Gruppe wieder zusammen und lesen „echt“ vor (junge Leute sprechen gern von der PERFORMANCE). Sie sehen, warum die optimale Form dieses Trainings darin besteht, daß man täglich einen Schritt durchläuft. Somit kann jedes Mitglied danach zuhause so intensiv und lange üben, wie er/sie benötigt, bis man morgen zum nächsten Schritt wieder zusammentrifft.
Schritt 7: Erfolgskontrolle: Aufzeichnung 2
Am Ende steht die zweite Aufzeichnung und der Vergleich zur ersten. Diese Erfolgskontrolle kann in der Kleingruppe vorgespielt werden, dann hören die Spielerinnen drei oder vier mal hintereinander die „nackte“ Version aus der Vorbereitungsphase und unmittelbar darauf die jetzige Lesung (nach intensivem Üben). Es ist beeindruckend. Durch den Vergleich hören wir mit einem Schlag, was ein Training über Stunden, Tage oder Wochen bringen kann. Während des Trainings kann man kleine, schrittweise (kumulative) Verbesserungen oft kaum wahrnehmen, aber durch das VORHER, und NACHHER mit einem Schlag sind alle kumulativ angesammelten Verbesserungen klar wahrzunehmen (Erfolgs-Kontrolle).
Gerade dieses berechtigte Erfolgs-Gefühl ist insbes. für Menschen (junge wie alte), die aus der Schule nur das quälende „Vorlesen-Müssen“ kennen, oft eine völlig neue Erfahrung. Denn das Aufgerufen-Werden in der Schule bietet ja keine echte Trainings-Möglichkeit für die Schwachen, deren Nervosität (weil sie vor der Klasse lesen MÜSSEN) so viel Streß verursacht, daß eine gute Leistung schon deshalb kaum möglich wird (selbst, wenn sie daheim geübt haben sollten). Hinzu kommt, daß das wiederholte Lesen des Textes alleine nicht halb so wirksam ist, wie diese 7-Trainings-Schritte (die in vielen Jahren durch zahllose Versuchs- und Irrtums-Experimente entwickelt wurden) ein wesentlich wirksameres und nachhaltigeres Training ermöglichen! Wenn ehemals schwache Leserinnen im Vergleich VORHER/NACHHER diesen enormen Leistunqs-Sprung erleben, den sie in der kurzen Zeit Schritt für Schritt erübt haben, dann werden sie diesen Eindruck erstens ihr Leben lang nicht mehr vergessen und sind zweitens danach bereit, weiter in dieser Form zu üben.
*Dieses Rezitations-Training wurde erstmals in „Rhetorik-Training Kompakt
“ (Hosentaschenbüchlein), 2008 veröffentlichtt