Kläranlage des Geistes

Vera F. Birkenbihl

Vor einigen Jahren beschrieb ich (in einer meiner Kolumnen) eine Technik, die ich als Kläranlage des Geistes bezeichne. Hierbei handelt es sich um eine phänomenale Hilfe für den ganz normalen Alltag, die ich Ihnen empfehlen möchte. Worum geht es? Antwort: Um Sprache. Genauer: Es geht um Ihre Sprache, nämlich darum, wie Ihre Sprache Ihnen helfen kann zu denken!

In seinem sehr lesenswerten Buch „Wörter machen Leute“ weist Wolf SCHNEIDER darauf hin, daß Sprache zwei Funktionen hat, von denen wir die zweite in der Regel nicht wahrnehmen. Wir gehen davon aus, dass Sprache vor allem dazu diene, Ideen, Gedanken, Informationen auszutauschen. Das ist zwar richtig, aber es gibt eine weitere wichtige Funktion der Sprache. Diese illustriert Wolf Schneider mit folgender Vorstellung:

Es stehen zwei Männer an der Bushaltestelle. Beide haben die Hände tief in den Taschen vergraben, weil es sehr kalt ist. Plötzlich sagt der eine: „Kalt heute!“ Der zweite nickt, und jetzt sind beide ERLEICHTERT! Wiewohl sie beide wissen, dass es kalt ist, wird die Kälte für beide erst richtig „real“ (sowie erträglich), nachdem sie in Worte gefaßt wurde. Das ist die zweite Funktion von Sprache! Indem wir aussprechen (aufschreiben), was wir sehen, fühlen oder denken, wird es für uns erst richtig „real“.


Typische Auswirkungen in der täglichen Praxis:

  1. Wir müssen unsere Gesprächspartner (z.B. unsere Kund/innen!) reden lassen, statt selbst zu monologisieren!), denn für uns ist die Info ja bereits „faßbar“ (oder sie sollte es sein!).
  2. Wenn uns etwas noch nicht „ganz geheuer“ ist, dann neigen wir dazu, anderen davon zu erzählen. Somit benutzen wir Sprache, um selbst etwas zu begreifen.

Deshalb „labern“ manche Menschen oft endlos „an einen anderen hin“, nur um zu erfahren, was sie dachten, nachdem sie sich reden gehört haben… Sie können diese Art von „Rede“ beim Zuhören erkennen, wenn Sie einen Blick und ein Gehör dafür entwickelt haben, weil dieser Mensch sich selbst verrät, was Sie HÖREN (oder LESEN) können, denn er erzählt Ihnen laufend, was ER SELBST dachte, wie etwas AUF IHN wirkte, was ER jetzt zu einer anderen Person sagte usw. Dies geschieht natürlich unbewußt, weil die meisten Menschen sich mit dieser wichtigen Funktion von Sprache noch nie befaßt haben. Würde man alle Gespräche streichen, bei denen das eigene Wohl im Vordergrund steht, müßten viele Menschen ziemlich stumm durchs Leben gehen. Und Sie? Wann haben Sie zum letzten Mal an jemanden (z.B. einen Kunden) „hingeredet“? Wann haben Sie zum letzten Mal einen Mitmenschen (z.B. einen Partner) als Kläranlage des Geistes benützt? Wann haben sie zum letzten Mal „laut gedacht“, indem Sie „an jemanden hindachten“ während Sie den Eindruck erweckten, Sie sprächen mit dieser Person?

Bitte notieren Sie Ihre Antworten zu folgenden Fragen:

  1. Fallen Ihnen jetzt andere Menschen ein, die regelmäßig „an Sie hinreden“, weil auch sie öfter ihre eigenen Gedanken in Pseudo-Gesprächen mit Ihnen klären, also nicht „echt“ mit Ihnen kommunizieren?
  2. Gibt es Konsequenzen, die Sie für Ihre persönliche Kommunikation im Alltag ziehen könnten?

Wenn Sie wirklich Konsequenzen ziehen wollen, dann stellen Sie sich ab und zu mindestens eine der folgenden sechs Fragen:

  • Welchen Vorteil hat mein derzeitiger Gesprächspartner von diesem Gespräch?
  • Inwieweit hilft dieses Gespräch ihm?
  • Inwieweit stellt es eine wertvolle Investition seiner Ressource Zeit für ihn dar?
  • Möchte er ein Problem lösen?
  • Erhofft er sich Impulse von mir? Sucht er Informationen, die ich ihm geben kann?
  • Will er nur seine Gedanken klären? (Wenn ja, bin ich bereit, ihm diese Möglichkeit zu gewähren, z.B. weil es mein Kunde ist oder weil ich diese Person als Mensch schätze)?

Bisher ging es uns darum, daß viele Menschen ihre Gedanken (unbewußt) in Gesprächen klaren, indem sie an eine Person „hinreden“. Jetzt werde ich Ihnen eine tolle Technik zeigen, die schon Goethe angewendet hat. Beginnen wir mit der (einfachen) Basis-Übung gefolgt von der Goethe-Variante (für Menschen, die echt etwas über sich erfahren wollen).


Technik: Kläranlage für den Geist

Schreiben Sie täglich zehn Minuten lang alles, was Ihnen gerade in den Sinn kommt auf (notfalls jetzt fällt mir nichts ein)! Wenn Ihnen im Augenblick gerade gar nichts einfällt, dann schreiben Sie (wörtlich): Jetzt fällt mir nichts ein! Schlimmstenfalls würden Sie die ganzen zehn Minuten lang schreiben: Jetzt fällt mir nichts ein! (was fast nie passiert) denn bei dieser Übung gilt die eiserne Spielregel: Ihr Stift muß sich die ganze Zeit bewegen. Denk-Pausen sind (bei dieser Übung) total verboten. Machen Sie den inneren Monolog sichtbar, der so oft in Gesprächen auftaucht weil wir vor dem Sprechen genauso wenig wußten, welche Gedanken wir gerade klären wollten. Darum wissen viele Leute ja erst, was sie gedacht haben, nachdem sie sich reden gehört haben! Das meinte Kleist in seinem vortrefflichen Essay mit dem Titel: „Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden.“

Da die Aufgabe darin besteht, 10 Minuten lang zu schreiben (wobei Sie hinterher nicht lesen müssen, was Sie geschrieben haben), gilt: Wenn Sie wollen, können Sie hier Geheimschrift üben. Es hat folgende Vorteile:

  1. Kaum jemand kann Ihre Texte lesen (anfangs nicht einmal Sie selbst!).
  2. Die Verwendung einer anderen Schrift bewirkt u.a. auch, daß ganz „andere“ (teilweise sogar weit originellere) Gedankengänge entstehen, weil man in andere Denk-Bahnen gelangt.

Probieren Sie es vielleicht einmal aus…?

Wenn Sie es einmal einen Monat lang ausprobieren, können Sie feststellen, wieviel „Schutt“ auf diese Weise im Bewußtsein „auftaucht“ und durch dieses Schreiben weggeräumt werden kann. Immer wieder werden Sie die be-FREI-ende Wirkung dieses Klärprozesses erleben. Es lohnt sich wirklich! Testen Sie diese Technik einen Monat lang. Danach erst entscheiden Sie, ob Sie fortfahren wollen. Merke: Wer sich bereits im Vorfeld entscheidet, es gar nicht erst zu versuchen (nach dem Motto: Was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht.), verliert viel…

Ihre tägliche (nonstop) Niederschrift stellt einen Spiegel dessen dar, was während der 10 Minuten in Ihnen vorgeht. Dieses Dokumentieren Ihrer „erstbesten“ Ideen bietet Ihnen einen Gedankenmonitor, der Ihnen (wie ein Fernsehmonitor), ein Kontrollbild anbietet. Wir sprechen im nächsten Brief darüber, was Sie mit solchen Texten anfangen können, wobei Sie sie (vorläufig) nicht einmal lesen müssen…


Die Goethe Variante der Kläranlage-für-den-Geist-Übung:

Wenn Sie ernsthaft Selbsterforschung betreiben wollen, ohne einen Psychiater zu bemühen, dann können Sie eine Variante dieser Technik einsetzen, die Goethe genutzt hat. Das sieht so aus: An einem Tag schreiben Sie irgend etwas. Und an einem späteren Tag nehmen Sie das neulich (oder damals) Geschriebene und schreiben jetzt zu jedem Absatz, zu jedem Gedanken, spontan auf, was Ihnen jetzt dazu einfällt (vgl. Kasten). Das Beispiel mit dem WALKEN ist nicht aus der Luft gegriffen; es befindet sich in meinem Kläranlagen-Journal (von 1995). Als ich später auf diesen Vorsatz stieß, schrieb ich:

Wieso habe ich das aufgeschrieben, wo ich doch offensichtlich nicht wirklich vorhatte, zu gehen? Nun, wenn ich es offensichtlich nicht vorgehabt hätte, dann hätte ich es ja wohl kaum notieren können. Also muß doch ein gewisser Vorsatz existiert haben, zumindest unbewußt. Könnte es sein, dass mein Körper mir hier etwas sagen möchte? Hat die „Intelligenz des Körpers“ diese Zeilen ausgelöst? Spannend finde ich das.

Natürlich können Sie später ein drittes Mal weitermachen, indem Sie wiederum frei assoziieren zu dem, was jetzt da steht. Dies tat ich in jenem spezifischen Falle auch (ca. vier Wochen später):

Also das ist wieder typisch. Da frage ich mich, ob mein Körper mich quasi anfleht, mich endlich von meinem fetten A… zu erheben und wenigstens mal 45 Min. pro Tag zu Walken und schon wieder habe ich mich gedrückt. Einerseits sehr interessant, andererseits macht es mich doch sehr nachdenklich…

Wenn ich einen spannenden „Faden“ entdecke, verfolge ich ihn über eine gewisse Zeit. Manchmal führt er in eine geistige Sackgasse, manchmal aber entpuppt er sich als regelrechter Ariadne-Faden, mit dem ich aus einer tiefen „Höhle“ ans „Licht“ finde (weil ich neue Ein-SICHT-en gewinne oder gar – in diesem Punkt – eine gewisse „Erleuchtung“ erlebe. So auch hier. Denn einige Tage später sichtete ich die hier zitierten Textstellen und schrieb:

Anscheinend reicht nachdenken nicht, denn dabei ist es geblieben. Jetzt möchte ich zu gern wissen, was mich akut vom Walken abhält? Ich werde mir eine Notiz schreiben und dem bewußt nachgehen… Zwei Tage später:

Habe ein KaWa zu WALK-ing gemacht und bin dabei wahrscheinlich auf den Grund meines Nicht-Gehens gestoßen: Nach W (Wille) und L (Luft, frische) ergab das A: ANGST, und das K führte zu „Kampfhormone“! Also doch kein Wunder, daß ich nicht gegangen war?

Daß meine Angst sich auf Hunde bezog, fiel mir innerhalb von Augenblicken ein, nachdem die Angst erst einmal hingeschrieben worden war. Des weiteren ist es so, daß in meinem Ort einige ziemlich große Hunde frei herumlaufen, die mir aufgrund meines Traumas* und meiner geringen Körpergröße von 1.53 natürlich besonders groß und gefährlich erscheinen (da meine Angst proportional zur Größe des Hundes in Relation zu meiner wächst). Beim nächstenmal schrieb ich (ca. zwei Wochen später):

Also, jetzt werde ich testen, ob es wirklich die Hunde sind. Wenn ich ein WALK-ing-Gerät auf der Terasse installiere, dann müßte ich schnell herausfinden, ob ich regulär Walken werde.

Das Gerät habe ich besorgt und tatsächlich angefangen, regelmäßig zu trainieren.

In meinen alten Journalen aus Amerika fand ich einen weiteren Passus von Textstellen (nach der Goethe-Technik: Ich war damals (ca. 1968) dem Gedanken das erste Mal bewußt begegnet, daß die Welt unser Spiegel sein könnte. Daß wir in die Welt hineinschauen und quasi uns sehen. Daß die Welt uns spiegelt. Und daß, wer beispielsweise von negativ gestimmten Menschen umgeben zu sein scheint, möglicherweise selbst die Quelle dieser Negativität ist.

Ich fand diesen Gedanken im ersten Ansatz ziemlich blöde. Ich war nämlich damals umgeben von „aggressiven“ Menschen (die mir immer an den Kragen wollten). Ich war ständig verletzt und dabei, mich zu verteidigen und zu re-agieren. Ich konnte selbstverständlich absolut nichts dafür, daß es so viele Leute gab, die mich angegriffen…

Das war meine damalige Geisteshaltung, und dann begegnete ich diesem Gedanken (Welt als Spiegel), den ich natürlich zunächst brutal ablehnen „mußte“, wollte ich mein Selbstwertgefühl, das zu der Zeit sowieso arg strapaziert war, nicht noch weiter gefährden. Bald tauchte der Gedanke im Kläranlagen-Journal (das ich damals noch Thought-Monitor nannte) auf. Eines Tages schrieb ich:

Wenn die Welt ein Spiegel ist, dann müßten die vielen aggressiven Menschen, denen ich laufend begegne, meine eigene Aggressivität widerspiegeln. Quatsch!

Dann las ich dies etwas später nochmal, und schrieb:

Angenommen ich wäre wirklich viel aggressiver als ich glaube…, na, ja, ich bin schon manchmal ziemlich heftig in meiner Abwehr, aber ich wehre mich ja nur! Am nächsten Tag:

Kann man aggressiv abwehren, wenn man eigentlich ganz und gar nicht aggressiv ist? Interessante Frage!!! Anscheinend ist ja doch eine Menge Aggressivität in mir. Ich werde die Gruppe fragen.

Wir hatten damals ein wöchentliches Meeting mit Menschen, mit denen wir gemeinsam über solche Dinge reden konnten (eine sogenannte T-Group). Nachdem ich die Gruppe gefragt hatte:

Die Gruppe ist sich einig. Ich scheine ziemlich aggressiv zu sein. Schon, wie ich im coffee-shop einen Imbiß bestelle oder wie ich herummeckere, wenn kein Eiswasser da ist, wie ich anderen mit meinen Zwischenfragen in die Parade fahre usw. Einige fühlen sich regelmäßig durch meine Art oder inhaltlich, durch meine Art von Fragen angegriffen. So hatte ich mich noch nie wahrgenommen. Ein paar Tage später: … Da fällt mir ein, daß meine ganze Familie so ist. Deshalb dachten Ausländer immer, wir würden streiten, was uns alle immer total überrascht hat. Kann es sein, daß diese Aggressivität keine Aggressivität gegen andere ist? Dem Gedanken könnte man einmal nachgehen… Nur, warum fühlen sich die anderen dann doch von mir angegriffen…? Einige Tage später:

Wahrscheinlich ist jede Aggressivität aggressiv, wenn verschiedene Menschen sich regelmäßig angegriffen oder verletzt fühlen. Dies müßte dann auch für meine Aggressivität gelten! Darüber sollte ich mit mehr Menschen sprechen, insbesondere A. und M. Und ich sollte lernen, bewußter zu beobachten, wie Menschen auf meine Art re-agieren, wenn ich mich vorher nicht angegriffen gefühlt hatte…

Schlußfolgerung einige Wochen später: Die Welt war mir in diesem Aspekt eben doch ein Spiegel gewesen…

Sie sehen, zu welchen neuen Einsichten diese Technik verhelfen kann. Dieses Beispiel (Welt als Spiegel) war das erste, bei dem mir die Kläranlagen-Schreibübungen im Sinne des Erforschens der eigenen Insel maßgeblich weitergeholfen hatten! Später wurde mir beim Schreiben noch eine weitere Einsicht zuteil: Akustisch kennen wir die Idee der WELT ALS SPIEGEL eigentlich schon, wenn wir sagen „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück!“ Da ist uns auch klar, daß wir selbst vielleicht negative RE-Aktionen auslösen, Nur, daß dies für unsere Wahrnehmung in einem viel allgemeineren Sinne auch gelten kann, das habe ich durch solche Schreibübungen erst gemerkt.

Ich setze die Technik seit 1969 ein und stoße immer wieder auf spannende Entdeckungen, die ich auf normalem Wege wahrscheinlich nicht gemacht hätte. Es lohnt sich also durchaus…

vfb

*Ich war im Alter von vier Jahren von zwei Schäferhunden angefallen worden…

 

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