Kenn ich schon – Was wir über WIEDERHOLUNGen wissen sollten

von Vera F. Birkenbihl

Dieser Gedanke befindet sich in ähnlicher Form in Stroh im Kopf? Vom Gehirn-Besitzer zum Gehirn-Benutzer

Wer glaubt, dasselbe mehrmals in identischer Form hören oder lesen zu können, sollte wissen: Je flacher das Ausgangsmaterial ist, desto „gleicher“ wirkt es. Ist das Material aber „tief“ oder „komplex“, dann können wir bei einem Durchgang gar nicht alles heraushören (oder -lesen). Wir werden nämlich an verschiedenen Stellen durch eigene Assoziationen „abgelenkt“, die das Gehörte (Gelesene) ständig an-REICH-ern.

Hinzu kommt, daß sich unser Geist seit dem letzten Mal geändert hat. Dies ist bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Wiederholungen, wie man sie vom Schullernen her kennt, nicht der Fall. Aber sehr wohl, wenn wir uns einen guten Artikel oder ein spannendes (Hör-)Buch Wochen (Monate, Jahre) später noch einmal vornehmen. Wir haben uns in der Zwischenzeit innerlich verändert, und dies verändert unsere Assoziationen, mit denen wir Wahrgenommenes „an-REICH-ern“. Also werden wir einer solchen Wiederholung ganz andere Aspekte entnehmen. Im übrigen hängen unsere Assoziationen auch sehr davon ab, was uns in letzter Zeit „begegnet“ ist, weshalb wir uns z.B. eine Sache systematisch mehrmals vornehmen können und jedesmal andere Details registrieren werden. Das können Sie testen, indem Sie sich einen Tonträger mindestens zehn Mal anhören, wobei zwischen den Hör-Erlebnissen jeweils mindestens 24 Stunden (besser einige Tage oder Wochen) liegen sollten. Bei den ersten 2 bis 3 Malen hören Sie jedesmal neue Details heraus. Beim 4. bis 6. (oder 7.) Mal langweilen sich die meisten Menschen. Diese „Langeweile“ wird durch oberflächliches (flaches) Hinhören verursacht. Im Gegensatz hierzu steht ein aktives, mitdenkendes Zuhören (bei dem wir uns einer Person, Tätigkeit oder einem Gedankengang wirklich zuwenden). Selbst wenn Sie die mittleren Male „langweilig“ finden, machen Sie weiter, denn beim 8. oder 9. (manchmal auch beim 10.) Mal hören Sie plötzlich wieder „neu“. Sie nehmen Details wahr, von denen Sie (fast) schwören würden, sie seien bisher niemals zu hören gewesen. Deshalb sollen Sie das Experiment mit einem Tonträger durchführen, bei dem Sie sicher sind, daß Ihnen niemand Ideen „hineinschmuggeln“ kann, die plötzlich (in Ihrem Bewußtsein) „auftauchen“. Übrigens ist dieser Effekt seit langem bekannt. Er veranlaßte z.B. einen japanischen Zen-Meister vor vielen Jahrhunderten dazu, auszurufen:

Zuerst war der Ochse ein Ochse und der Berg ein Berg. Dann war der Ochse kein Ochse mehr und der Berg kein Berg. Jetzt ist der Ochse wieder ein Ochse und der Berg ein Berg…

So ähnlich ist es, wenn wir „dieselben Informationen“ zum x-ten Male wahrnehmen. Ein Teil davon ist uns so vertraut, daß er keinerlei Aufmerksamkeit mehr benötigt, und so wird Kapazität frei, um andere Aspekte zu registrieren, die plötzlich „auftauchen“. Wenn aber etwas „auftaucht“, dann bedeutet das, daß es aus einer gewissen Tiefe an die Oberfläche gestiegen ist, also konnte es bei den ersten Hör-Versuchen noch nicht wahrgenommen werden.

Ich habe dieses Experiment vor vielen Jahren mit einem Kassetten-Vortrag gemacht, in dem ich auch heute noch neue Aspekte entdecken kann, wenn ich ihn alle 6 bis 8 Monate wieder einmal anhöre! Dieser Prozeß ist natürlich nicht zu vergleichen oder zu verwechseln mit stupiden, mechanischen Wiederholungen, die wir von der Schule kennen (wenn wir z.B. Vokabeln, Jahreszahlen oder Formeln pauken). Ähnlich ist es beim Lesen von Texten mit Tiefe. Natürlich lesen wir nur selten Bücher mehrmals (wobei ich einige bis zu fünfmal gelesen habe!).

Deshalb rate ich Ihnen, bewußt zu registrieren, wenn der Kenn-ich-schon-Reflex Sie daran hindern möchte, einem Werk das Meistmögliche an Inhalt zu entnehmen, weil er Sie davon abhält, ein zweites (weiteres) Mal bewußt zu hören/lesen, was sich Ihnen bietet. Dasselbe gilt auch, wenn Sie einem ähnlichen Gedanken begegnen. Ich meine: Wenn eine Idee grundsätzlich von Wert ist, kann sie auch mehrmals überdacht werden, andernfalls wäre die Wiederholung sinnlos, weil schon der erste Genuß zu wenig Sinn geboten hat.

vfb

 

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen